Am Abend erreichen wir einen Parkplatz vor den Felswänden in Yelatan im Aladağlar Nationalpark. Es ist bereits dunkel und wir fahren eine steile Schotterstraße hinauf, bis wir eine halbwegs ebene Fläche entdecken. Am nächsten Morgen fährt der Bauer, welcher uns noch in der Nacht vor den ca. 50 Bienenstöcken gwarnt hat, mit seiner Familie auf dem Traktor vorbei und bietet uns frische Schafmilch an. Der ca. 10-jährige Sohn kommt nach ein paar Stunden nochmal bei uns vorbei. Wir verstehen zuerst nicht, was er will und bieten ihm Saft und Pfirsiche an. Diese verschlingt er im Schatten des Busses, anschließend darf er mit einem von unseren Rädern eine Spritztour drehen. Dieses hat zwar danach einen Platten, aber seine Freundschaft haben wir gewonnen. Er erzählt uns, dass er in den Ferien auf eine Schafherde und einen Esel aufpasst, von den ausgetrockneten Seen, welche es anscheinend vor kurzem noch gab und den Bienen.
Wie auch seine Familie beschäftigen ihn die Wölfe, welche eine Gefahr für die Schafe und sogar für Menschen darstellen. Er habe sie schon in Aktion gesehen, zeigt er wild gebärdend vor. Außerdem warnt er uns vor den hohen Bergen drüben im Nationalpark, er macht sich Sorgen wegen unserem Vorhaben, auf die hohen Berge zu klettern. Immer wieder sterben dort Menschen, zuletzt wegen einer riesigen Lawine im Winter. Am Nachmittag wandern wir drei ein Stück, kommen bei seiner Schafherde, dem Esel und einer kalten Quelle vorbei. Dabei stellen wir fest, dass die Temperaturen für die südlich und westlich ausgerichteten Kletterwände in der Nähe fürs Kettern zu heiß sind.
Wir fahren weiter und erreichen im Emli Valley das Sarimemetler Camp für Zelte und Fahrzeuge auf ca. 1700m Höhe. Diese gratis Camps befinden sich im ganzen Nationalparkgebiet verteilt, es gibt Toiletten und Trinkwasser, um den restlichen Nationalpark sauber zu halten. Wir werden sofort von freundlichen Menschen, die hier mit fünf Campern ein verlängertes Wochenende verbringen, willkommen geheißen. Das Wetter ist kühl und es regnet immer wieder. Endlich sind Wolsocken und Pullover wieder passend, wir schlafen so gut wie seit Wochen nicht mehr.
Wir unternehmen am nächsten Tag eine kleine Sonnenuntergangsradtour. Wir erkunden das Emli Tal, dessen Hügel und mysteriöse Steinhöhlen. Sie endet mit Stirnlampen. Der nächste Morgen beginnt noch sehr sonnig, als gegen Nachmittag ein erstes Donnern zu hören ist. Es hat den ganzen Tag immer wieder geregnet und wir haben im Bus sortiert, warme Kleidung herausgeräumt und Sommerkleider weit hinten verstaut. Wir entscheiden uns, noch eine kleine Radtour in das Tal nach oben zu machen. Die Tour führt uns zu einer Quelle, wo auch wieder ein Esel steht. Wir parken die Räder und wandern noch etwas weiter ins Tal, bis sich die Wolken mehr verdichten und es wieder donnert. Der Himmel am Ende vom Tal ist schwarz und wirkt bedrohlich. Der Donner wird stärker und wir spüren die ersten Regentropfen. René kostet diese schlammige Downhillfahrt voll aus. Danach kundschaften wir noch den Zufahrtsweg zum Parkplatz aus, der teilweise schon unter Wasser steht.
Am nächsten Tag soll es wieder regnen und wir würden dieses Stück unmöglich passieren können, also fahren wir in der Früh, noch bei Sonnenstrahlen, aus dem Tal raus. Den Regentag verbringen wir im Camp von Recep und Zeynep, den Autor*innen des Kletterführers von Aladaglar, um alle neu dazugekommenen Routen in unserem Buch zu ergänzen.
Immerhin ist das Guidebook schon zehn Jahre alt und es sind einige neue Routen dazugekommen.
Die nächsten Tage verbringen wir bei wechselhaften Bedingungen mit Sportklettern. Wir stehen dabei direkt neben dem Kazikli Ali Canyon, welcher aus Konglomerat besteht.
Das Wetter ist wechselhaft, am Nachmittag regnet es oft, aber die Wände sind nach kurzer Zeit wieder trocken. Die Wettervorhersage für die nächsten zwei Wochen prognostiziert Traumwetter. Wir verbringen noch einen kühlen Sportklettertag auf Kalkplatten im Cimbar Canyon, bevor wir uns auf den hoffentlich aufgetrockneten Weg zu unserem nächsten Camp auf knapp 1900m Höhe machen.
Die Sonnenstrahlen haben schon einiges an Arbeit geleistet und die zwei kurzen Matschstücke werden von Elke bravourös gemeistert. Das Sokulupinar Camp wird für die nächste Zeit unsere Basis für alpine Klettereien und Bergtouren. Öfter kommt der Schäfer mit seinen gut hundert Schafen vorbei und eine hungrige Hündin wird zu unserer ständigen Begleiterin.
Am Abend nach einer alpinen Kletterei planen wir noch die erste längere Bergtour auf einen der hohen Berge. Das Aladaglar Gebirge weist die größte Dichte an 3000ern in der Türkei auf, also haben wir die Qual der Wahl. Gewitter fließt hier nicht in die Planung mit ein, da der Wetterbericht für die nächsten Tage immer stabile 14 Stunden Sonne vorhersagt, welche wir noch verfluchen werden.
Karasay 3560m
Wir starten nach einem gemütlichen Frühstück bei den ersten Sonnenstrahlen, am vollen Kayacik Camp vorbei in das weite Tal nach hinten und oben. Es sind an diesem Wochenende viele Menschen unterwegs, die Camps sind voller Zelte und es kommen uns mit Campingequipment vollgepackte Maultiere entgegen. Esel aund Maultiere dienen als Träger für Zelte und Rucksäcke für diejenigen, die eine leicht bepackte Taurus-Durchquerung genießen. Bis zur Quelle auf 3100m kommen wir gut voran, steigen in einem engen Tal auf, das uns am Vormittag noch Schatten spendet. Am Plateau angelangt, brennt die Sonne unbarmherzig auf unsere Köpfe. Die letzten Höhenmeter gehen wir auf Schotterfeldern, was den Aufstieg erschwert.
Nach einer letzten Kletterrei erreichen wir den Gipfel Karasay mit 3560m. Der Weg könnte noch verlängert und die Gipfel Eznevit (3550m) und Karasay Tepesi (3372m) mitgemacht werden. Ebenso wäre eine Überschreitung ins Emli Tal möglich, doch an dem Tag ist die Sonne unser größter Feind und für die erste Bergrour sind wir zufrieden. Die mühsamen Schotterfelder werden beim Abstieg zu lustigen Lauffeldern, was zu Beginn flott vorangeht.
Das lange Tal hinaus wird nach dem langen Tag schon etwas schwerer in den Beinen und wir freuen uns, als wir beim Bus unsere Schuhe und Socken ausziehen können. Am Abend fallen wir wie Steine ins Bett. Kühle Bergluft ist das Klima, in dem wir uns wohl fühlen.
Dipsiz See, 2900m
Am Tag nach einer abenteuerlichen Klettertour wollen wir eine Wanderung zu einem 2900m hoch liegenden See machen. Die Wetterbedingungen sind wie die letzten Tage traumhaft. Wir starten am frühen Nachmittag, damit wir den See vor Sonnenuntergang erreichen. Mit Zelt und Proviant in den Rucksäcken entscheiden wir uns, weniger Wasser mitzunehmen und dieses bei den Quellen am Weg immer wieder aufzufüllen. Kurz bereuen wir es, kein Maultier gemietet zu haben, aber dann tragen uns unsere Beine doch flink nach oben. Das Waserauffüllen funktioniert bis zum See ganz gut, wo wir dann die eingezeichnete Quelle nicht finden und Seewasser abkochen. Wie geplant erwischen wir die letzten Sonnenstrahlen, welche orange und rot von den Felswänden in den See zurückleuchten. Hier schlagen wir als einzige unser Nachtlager auf. Der Nachthimmel ist klar und leuchtet voller Sterne, in der Ferne heulen Hirtenhunde.
In unserer Abgeschiedenheit, weit weg von Menschen und Schafen, fallen uns die Geschichten des Bauernkindes aus Yelatan wieder ein. Plötzlich fühlt sich diese Freiheit beängstigend an. Kann uns unsere völlige Einsamkeit zur Gefahr werden? Dass es hier Wölfe gibt, bezeugen nicht nur die stachelbesetzten Halsbänder der Hirtenhunde. Wir haben keinen Handyempfang und niemand würde uns hören, wenn die Wölfe hungrig im Schlaf über uns herfallen. Jedes Geräusch, das von draußen ins Zelt dringt, wirkt bedrohlich. Irgendwann in der Nacht sehen wir in der Dunkelheit zwei leuchtend gelbe Augen auf uns gerichtet. Noch nie haben wir so schnell den Knopf der Stirnlampe und das Messer griffbereit.
Vor unserem Zelt liegt zum Glück kein hungriger Wolf, sondern ein riesiger Hirtenhund, der wahrscheinlich aus Neugierde aus den Weiten der Steinfelder bei uns aufgetaucht ist. Dieser Hund, welche Rasse wir schon lieb gewonnen haben, spendet kurz ein sicheres Gefühl. Doch diese Hunde halten keine Wölfe fern, sie alarmieren mit ihrem feinen Instinkt nur. Schließlich fallen wir in einen unruhigen Schlaf und träumen vom Heulen der Wölfe.
Die Ängste der Nacht sind wie der Hirtenhund bei den ersten Sonnenstrahlen verschwunden. Die Sonne brennt wieder so heiß auf uns nieder, dass wir uns früh im See abkühlen.
Dann machen wir uns voller Hoffnung auf den Weg zur nächsten Quelle, in der Nähe von einem Hirtenzelt. Wir sehen bei dem Camp einen Bach aus den Felsen heraustreten, welcher die Meter davor mit Steinen bedeckt ist, wo jedoch die hunderte Schafe darüber ihre Wassertränken haben. Zur Sicherheit fragen wir den Schäfer, wo hier die Quelle sein soll. Dieser meinte, genau der Teich da drüben, wo der Hund gerade raustrinkt, ist Trinkwasser. Wir entscheiden uns lieber, durstig zu bleiben und die Quelle noch auf sich warten zu lassen.
Der weitere Weg führt uns m auf den Demirkazık Beli auf 3200m, ein Pass, welcher den Demirkazık, 3756m, und den Kücük Demirkazık, 3296m, verbindet. Unser erster Plan war, das Tal auf der anderen Seite des Beli hinunter zu wandern. Der Weg in das Tal ist für uns aber nicht zu erkennen und ohne Wasser ist uns das Risiko zu groß, vor einer Wasserfallkante oder steilen Schlucht wenden zu müssen.
Deshalb gehen wir den uns bekannten Weg zurück, wo sich sicher eine Quelle befindet. Wir erreichen nach weiteren 1,5h Wanderung in der glühenden Sonne schon ziemlich durstig die Quelle und freuen uns über das kühle Wasser. Gegen Nachmittag sind wir wieder zurück beim Bus und verbringen die Nacht wieder in unseren sicheren Blechwänden mit der Hündin als Wächterin.
Unsere leeren Vorratslager werden in der nahe gelegenen Stadt Çamardı aufgefüllt und wir fahren zum Sportklettern in den Pinarbasi Canyon. Danach soll es ein gutes Restaurant sein, ein Tag nach unserem Geschmack. Heute ist ein besonderer Tag, denn wir haben einen Jahrestag zu feiern. Google spuckt ein Restaurant mit tollen Fischfotos aus und wir sind schon am Weg über die Schotterstraße zur angegebenen Adresse. Der Mann begrüßt uns so freundlich, wie schon lange niemand, er freut sich sehr über ausländische Gäste. Obwohl hier gerade Hauptsaison ist, sind sehr wenige Urlauber*innen in den Dörfern oder auf den Bergen unterwegs. Die Menschen versuchen mit allen Mitteln der Marketingkunst, mehr Tourist*innen anzulocken, doch gelingen mag das noch nicht. Er hat erst vor kurzem eröffnet, es sollen einmal sechs Bungalows und einige Zeltplätze auf der Oase neben dem Fluss entstehen. Sofort lässt der Besitzer seine einzigen anderen Gäste, wahrscheinlich seine Nachbarn, unsere Fische aus dem Teich neben dem Fluss holen. Die Fische werden vor unseren Augen gefangen und getötet.
Der Hausherr bietet uns an, in dem einzigen Bungalow gratis übernachten und duschen zu dürfen und wir müssen nur das Essen bezahlen. Wir freuen uns nach der Woche voller Wanderungen, Klettereien und kalten Quellenduschen über eine warme Dusche und den besten Fisch, den wir jemals gegessen haben. Neben dem Gebirgsbach ist es sogar kälter, als oben am Berg und wir schlafen seit Ewigkeiten wieder zum Plätschern des Wassers ein. In der Früh bekommen wir noch einen köstlichen Frühstückstisch vor unserem Bungalow aufgetischt.
Heute ist ein weiterer besonderer Tag: René hat Geburtstag! Das bedeutet: Klettern und Essen! Am Abend testen wir daher ein weiteres Restaurant, welches uns am Weg zum Supermarkt schon ins Auge gestochen ist. Das Essen ist ein voller Genuss und wir genießen den Abend.
Heute schlafen wir bei der Berghütte des Nationalparks, um am nächsten Tag wieder ins Sokulupinar Camp, als Ausgangspunkt für unsere Demirkazıkbesteigung, zu fahren. Der Demirkazik wird in manchen Quellen als der höchste Berg im Nationalpark angegeben, in unserem Guidebook ist er der zweithöchste. Das ist uns egal, immerhin ist er der höchste besteigbare von allen.
Demirkazık 3756m
Wir starten früh bei angenehmen Temperaturen in den engen Canyon und sind froh, das erste Stück großteils im Schatten zu gehen. Die Strecke ist abwechslungsreich und steil, wodurch wir einiges an Höhenmetern zurücklegen. Wir wandern durch ein Tal, das uns sehr an Österreich erinnert. Bergblumen und grüne Gräser säumen die Flächen neben dem Bachbett, weiter außen ragen schroffe Steilwände aus Dolomit und Kalk in den Himmel.
Über dem Ursprung des Flusses sehen wir schon den nächsten Anstieg vor uns, jetzt geht’s knapp 400hm ein extrem steiles Schotterfeld hinauf. Es fühlt sich so an, als würde das Schotterfeld unendlich sein, immer wieder werfen wir bei kurzen Pausen einen Blick auf die Karte und die aktuelle Höhe. Nach gefühlt doppelten Höhenmetern, da wir bei einem Schritt nach vorn, zwei zurückrutschen, erreichen wir die Scharte auf ca. 3300m.
Jetzt wird erst mal gejausnet, bevor die leichte Plattenkletterei auf uns wartet. Gestärkt starten wir in die letzte Etappe, ab 3500m wird der letzte Teil zu einer lustigen Kletterei über Platten und Rinnen. Ein kleiner Vorgipfel verdeckt den richtigen Gipfel noch, doch dann erfreuen wir uns über den Gipfelsieg. Diese Spitze, sowie fast den ganzen restlichen Nationalpark, haben wir an diesem Sonntag für uns ganz allein.
Nach einer kleinen Pause begeben wir uns wieder die Rinne hinunter, bis zu den Reibungsplatten. Über zum Teil nur einen Normalhaken seilen wir ab. Nach zwei Abseilern entscheiden wir uns, die restlichen Absteilstände auszulassen und lieber abzuklettern. Wir erreichen wieder die Scharte und nun wartet ein langes Schotterfeld auf uns. Wir genießen das Laufen über das längste Schotterfeld, welches zuvor so anstrengend war. Die 400hm sind wohl die schnellsten, die wir je zurückgelegt haben. Dann gehts über Schotter, durch das Flussbett und die Blumenwiesen wieder zurück zum, bis auf die Hündin und einem Hundebaby, einsamen Camp. Bevor wir losfahren, zwingt uns das Hundebaby nochmal, darüber nachzudenken, was wir von der weiteren Reise wollen. Das Wort "Adoption" steht groß im Raum und es macht uns mit seiner anhänglichen Art die Sache nicht leicht. Doch es würde nicht glücklich sein, mehrere Stunden im heißen Auto zu sitzen, auf uns zu warten, während wir den ganzen Tag in den Felswänden hängen und sich an immer fremden Orten mit anderen, gefährlichen Tieren abfinden zu müssen. Reden wir uns ein und lassen es mit einem weinenden Auge im Camp zurück.
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